Text (und Anmerkungen) "Liberalismus, Sozialismus, Demokratie - die Zusammenhänge" 

Liberalismus ist ein Begriff, der sehr unterschiedlich verstanden wird. Grundsätzlich soll der einzelne Mensch möglichst viel Freiheit erhalten, ohne die Freiheit der anderen einzuschränken. Liberalismus beschäftigt sich mit politischen und wirtschaftlichen Themen. Eine Kernforderung des Wirtschaftsliberalismus ist die freie Marktwirtschaft. Alle Anbieter entscheiden selber, welche Waren und Dienstleistungen sie zu welchem Preis verkaufen. Dabei spielen Angebot und Nachfrage, geschicktes Marketing und durch Effizienz ermöglichte Produktivitätssteigerung eine wichtige Rolle. Eine Marktwirtschaft funktioniert nur, wenn verschiedene Anbieter sich konkurrieren! Der Gegenpol zur freien Marktwirtschaft ist die Planwirtschaft. Eine zentrale Instanz wie typischerweise der Staat koordiniert die Wirtschaft. Dies kann vor allem bei der Vorsorge für Krisenfälle wie Finanzcrashs, Naturkatastrophen und Pandemien, aber auch in der Forschung sinnvoll sein. Der Übergang zwischen freier Marktwirtschaft und Planwirtschaft ist fliessend.
Eine weitere Forderung des Wirtschaftsliberalismus ist der Kapitalismus. Wer sein Privateigentum als Kapital investiert, soll ohne eigene Arbeit Gewinne erwirtschaften, sogenannte Kapitaleinkommen. Weil diese Gewinne als Kapital wieder investiert werden, wachsen diese Kapitaleinkommen stetig. Dies wird Zinseszinsmechanismus genannt. Diese Gewinne erfordern ein exponentiell steigendes Wirtschaftswachstum, welches für Klimakrise, steigenden Energieverbrauch und Unmengen an Müll verantwortlich ist.
[Anmerkung: z.B. steht der Ausstoss des Klimagases CO2 eines Landes in direkter Abhängigkeit zum BIP.]
[Quelle: Maja Göpel, "Unsere Welt neu denken", 2020 Ullstein, p. 75]

Die Reichen erzielen dank Zinseszinsmechanismus und Wirtschaftswachstum immer höhere Einkommen. Die Armen kommen nicht vom Fleck, weil sie die Kapitaleinkommen der Reichen finanzieren müssen: Beim täglichen Einkauf sind die Dividenden für Aktionäre in den Preisen inbegriffen; Mieter bezahlen Zinsen an die Hauseigentümer.
[Anmerkung: im täglichen Konsum/Leben wird etwa ein Drittel der Ausgaben für die Kapitaleinkommen (Dividenden, Zinsen) der Investoren abgegeben.]
[Quelle: Thomas Piketty, "Das Kapital im 21. Jh.", 2014 Ch. Beck, p. 465]

Nicht nur bei Privatpersonen, auch bei Unternehmen ist diese wachsende Ungleichheit zu beobachten. In allen Wirtschaftsbereichen kontrollieren heute globale Konzerne mit ihren Quasi-Monopolen den Markt. Eine solche kapitalistische Marktdominanz ohne Konkurrenz widerspricht eindeutig der Forderung einer freien Marktwirtschaft. Die Interessen der Shareholder gewinnen gegen diejenigen der Unternehmer.
[Anmerkung: Der Ökonom Joseph Schumpeter machte schon Mitte des 20. Jh. auf die unterschiedlichen Interessen von Unternehmern (Makers, Stakeholder) und Kapitalisten (Takers, Shareholder) aufmerksam]
[Quelle: Mariana Mazzucato, "Wie kommt der Wert in die Welt?", 2019 Campus]

Der Gegenpol zu Kapitalismus ist Sozialismus. Infrastrukturen sind im Gemeinschaftsbesitz. Bekannte Beispiele sind Spitäler, Strassen und Parkanlagen, öffentliche Verkehrsmittel, Wasserversorgung, Elektrizität, Telekommunikation, Post und Schulen. Es handelt sich um eine typische politische Links-Rechts-Frage, ob diese Infrastrukturen in der öffentlichen Hand bleiben oder privatisiert werden sollen. Viele Menschen glauben, dass Marktwirtschaft und Kapitalismus zwingend zusammengehören. Das ist jedoch nur in der Lehre des Neoliberalismus der Fall.
[Quelle: Karen Horn, "Die soziale Marktwirtschaft", 2010 FAZ]

China ist ein gutes Beispiel eines planwirtschaftlichen Kapitalismus. Genossenschaften sind eine Kombination von Marktwirtschaft und Gemeinschaftsbesitz. Die vierte Verknüpfung, diejenige von Planwirtschaft und Sozialismus, ist der Staatskommunismus, der mit der Sowjetunion gescheitert ist.
Der politische Liberalismus setzt sich für den demokratischen Rechtsstaat ein. Die Rechte sind für alle Bürgerinnen und Bürger gleich und in Verfassung und Gesetzen verankert. Urteile werden durch von der Regierung unabhängige Gerichte gefällt. Der Gegenpol zur Demokratie ist die Diktatur, auch Autokratie genannt. Rechtspopulistische Regierungen neigen mit ihrem Nationalfundamentalismus in diese Richtung. Demokratie hat nichts mit Marktwirtschaft zu tun, weil auf dem Markt nicht alle Menschen dasselbe Recht besitzen, sondern die Kaufkraft entscheidet. Auch mit Kapitalismus hat Demokratie nichts zu tun, denn hier liegt die Macht alleine bei den Investoren. Die Freiheit für Konzerne scheint im Kapitalismus wichtiger zu sein als die Freiheit für Menschen.
Beleuchten wir die Geschichte des Liberalismus. Adam Smith gründete im 18. Jahrhundert die Nationalökonomie und gilt als Wegbereiter des klassischen Liberalismus. John Stuart Mill erstellte ein philosophisches Fundament, die Lehre des Utilitarismus: Jede Handlung soll den Gesamtnutzen für die Menschheit maximieren.
[Quelle: Otfried Höffe, "Einführung in die utilitaristische Ethik", 2013 UTB]

Diese Denkweise ist heute in der Klimakrise sehr aktuell, geht es doch darum, die Kosten für zukünftige Generationen zu berücksichtigen. Die Neoklassik versuchte als Kraft gegen den aufkommenden Marxismus, die Wirtschaft wissenschaftlich vom einzelnen Haushalt ausgehend mit Mikroökonomie zu beschreiben. Der Keynesianismus ging später den umgekehrten Weg und betrachtete die Volkswirtschaft top-down mit Makroökonomie. Nach dem Zweiten Weltkrieg bot die soziale Marktwirtschaft einen staatlich vorgegebenen Rahmen für wirtschaftliche Tätigkeiten.
[Anmerkung: Die soziale Marktwirtschaft wurde in Deutschland durch rechte Politiker wie Adenauer und Erhard (beide CDU) umgesetzt. Heute undenkbar. Der einzige Haken war, dass sie auf ewiges Wirtschaftswachstum basiert, was nicht nachhaltig ist.]

Seit den Achtzigerjahren herrscht der Neoliberalismus, welcher einen möglichst schlanken Staat mit einem Minimum an Regulierungen fordert, um Kapitalismus UND freie Marktwirtschaft gleichzeitig maximal umzusetzen, was jedoch aufgrund von kapitalistischer Marktdominanz nie gelingen kann. Begleitend setzt sich die Sozialdemokratie in der Politik für eine Abfederung der sozialen Probleme ein. Der Liberalismus versucht seit jeher, Marktwirtschaft, Kapitalismus und Demokratie unter einen Hut zu bringen. Weil der aktuell herrschende Neoliberalismus nicht nachhaltig funktioniert, müssen mit den Gegenpolen Planwirtschaft, Sozialismus und Autokratie Kompromisse gefunden werden.
[Quelle: Ulrike Herrmann, "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung", 2018 Piper]

Der Liberalismus muss sich dringend neu erfinden, um die heutigen Herausforderungen wie Pandemien, Klimakrise und Armut zu bewältigen. Wie wäre es mit einem Links-Rechts-Mittelweg, einem "regulativen Liberalismus"?
[Quelle: Andreas Reckwitz, "Das Ende der Illusionen", 2019 Suhrkamp]